Die Vorstellung, dass ich keine Eltern mehr habe, gruselt mich nach wie vor. Ich bin nicht mal 50 Jahre jung und trotzdem schon elternlos. Leo hat von meiner Seite aus keine Oma und keinen Opa mehr. Opa hat er nie kennenlernen können. Wäre ich ein Kind, dann träfe der Begriff "Vollwaise" auf mich zu.
Ich frage mich gelegentlich, was aus mir geworden wäre, wenn mein Vater nicht "gesoffen" hätte und noch leben würde. Vermutlich wäre mein Leben dann etwas anders verlaufen. Leonard hätte dann noch einen weiteren Opa gehabt, der ihn, charakterlich, sicher gut getan hätte. Aber "was wäre wenn?" oder "hätte hätte Fahrradkette", was meinen Lebensverlauf betrifft, ist Kaffeesatzleserei.
Ich lebe in der Realität und die zeigt mir klar und deutlich, dass ich keine Eltern mehr habe. Fakt ist, dass keine meiner direkten Vorfahren mehr leben. Die Weitergabe der kompletten Familiengeschichte an meinen Sohn hängt einzig und allein an mir.
Die Kenntnis der Familiengeschichte, auch wenn sie immer subjektiv geprägt sein wird, ist existenziell für die eigene Identitätsbildung. Ich erlebe es an mir, jetzt ganz aktuell mit diesem Blogeintrag. Der Wunsch, seine Vorfahren oder andere wichtige Familienangehörige zu kennen und sich mit ihnen auszutauschen (vorausgesetzt sie stehen einem wohlgesonnen gegenüber), ist eine elementare Triebfeder zur Selbstfindung, auch wenn man natürlich grundsätzlich ohne den Kontakt zu seinen Vorfahren leben kann.
Und dieser Mangel an eigener Identität zeigt sich bei einem Kind vermutlich anders als bei einem erwachsenen Menschen. Natürlich ist es ein gewichtiger Unterschied, ob ich als Kind oder als Erwachsener elternlos bin. Meine Eltern fehlen mir trotzdem, auch wenn ich selbst bald (alterstechnisch) ein "Opa" bin. Es ist immer schön Eltern zu haben und sich mit ihnen auszutauschen, auch wenn der Austausch, alltagsbedingt, unregelmäßig oder selten stattfindet. Das Schicksal hat es nun so gewollt, dass ich keine Eltern mehr habe, aber selbst ein Elternteil geworden bin.
Es hat mir sehr viel bedeutet, im letzten Jahr fast jeden Tag mit meiner Mutter zu telefonieren. Und dabei spielt es gar keine Rolle, ob die Telefonate manchmal nur 5 Minuten dauerten und wir nur über das Essen sprachen. Ich war über das Telefon für sie da. Meine Mutter hat meine Stimme gehört und sie genossen. Nur darauf kam es an. Und das sie mit mir, ihrem Sohn, inhaltlich anders telefonierte als vergleichsweise mit anderen ihr nahestehenden Personen, ist doch sonnenklar. Und es hätte sich auch niemand einzumischen, was ich mit meiner Mutter gesprochen habe und was nicht. Genauso, wie ich mich in andere Kommunikationen nicht eingemischt habe. Unsere Gespräche gingen nur meiner Mutter und mir etwas an.
Das klingt alles selbstverständlich, was ich hier schreibe. Doch leider sind nicht allen Menschen Selbstverständlichkeiten dieser Art bewusst, weil sie vermutlich ein extrem überhöhtes Bild ihrer "Einmischungsbefugnis" haben. Selbst wenn ich täglich mit meiner Mutter über Pudding oder Vanille-Eis gesprochen hätte, was ich teilweise tat, dann sagt diese Art der einfachen Kommunikation nichts über die innige Liebe und das innige Band zwischen meiner Mutter und mir aus. So einfach ist die Welt. Und wer eventuell auf die Idee kommen sollte, mir diese einfache Kommunikation zwischen meiner Mutter und mir vorhalten zu müssen, der hat aus meiner Sicht das Leben nicht so ganz begriffen.
Meine Mutter und ich ich waren uns in vielen Dingen sehr ähnlich. Wir beide haben nie sachliche Kritik gegenüber dem anderen mit Undankbarkeit oder Ähnlichem verwechselt. Nun ist sie fort und ich bin elternlos. Diese Tatsachen verdränge ich sehr oft. Alles, was bleibt, sind schöne Erinnerungen und Schuldgefühle.
Geschrieben im April 2023