Zum Totensonntag
-Mama, eine weiĂe Möwe hoch ĂŒber dem Ozean.-
Hallo Mama,
ich möchte Dir sagen, dass ich fast jeden Tag an Dich denke. Ich zĂŒnde sehr oft eine Kerze an, die neben Deinem Bild auf meinem Schrank im Wohnzimmer steht. Ein Bild von Papa steht wenige Zentimeter von Dir entfernt. Ihr seid beide viel zu frĂŒh von dieser Welt gegangen.
Du fehlst mir an allen Ecken und Enden! Ich liebte das LĂ€cheln in Deiner Stimme und Deine unkonventionelle Art, die Dinge auf den Punkt zu bringen. Ich liebte einfach alles an Dir. In vielerlei Hinsicht waren wir uns im Wesen sehr Ă€hnlich. Wir haben ungern gestritten und uns mit vielem einfach abgefunden, anstatt Lebenszeit dafĂŒr zu verschwenden, sich permanent ĂŒber etwas aufzuregen und dagegen anzukĂ€mpfen. Das Leben ist fĂŒr immerwĂ€hrende Konflikte und ewigen Zank einfach zu kurz.
Menschen, die zumindest noch ein Elternteil haben, können meine GefĂŒhle nur schwer nachempfinden, weil sie sich in einer anderen Lebenssituation befinden. Aus heutiger Sicht fĂŒhlt es sich komisch an, aber vor Deinem Tode warst Du immer da, auch wenn Du an einem anderen Ort wohntest. FĂŒr mich warst Du ein Mensch, der mir einzig und allein durch seine bloĂe Existenz eine enorme StabilitĂ€t verlieh. Keine Eltern mehr zu haben bedeutet fĂŒr ein Kind "nackt" zu sein, egal in welchem Alter sich das Kind befindet.
Du hattest Mitte der 1990 ´er Jahre, relativ kurzfristig, Berlin verlassen und bist mit H. nach Spanien gezogen. Dies war damals fĂŒr mich ein schwerer Schock, weil ich mich alleingelassen fĂŒhlte. Ich hatte als junger Mann das GefĂŒhl, dass mich nach dem Tod meines Vaters nun auch meine Mutter "verlĂ€sst". Man kann mal eben nicht zum Kaffee nach Spanien kommen, dachte ich mir immer. Ein Wiedersehen ist stets mit einer mehrtĂ€gigen Reise verbunden, die einer Planung Bedarf. Ich war damals Mitten in meiner Ausbildung und musste mich neu orientieren. Ich fĂŒhlte mich plötzlich "nackt", so völlig ohne Eltern. Erst viele Jahre spĂ€ter realisierte ich, dass Du nach dem Tod Deines alkoholkranen Mannes diesen Weg gehen wolltest. Und irgendwie war ich zu Beginn Deines Umzugs traurig darĂŒber, dass ich der "Preis" fĂŒr diese Entscheidung war, bzw. die gemeinsame Lebenszeit, die durch eine so groĂe Entfernung zwangslĂ€ufig verloren geht. Man sieht sich nicht mehr 1 Mal im Monat, sondern nur noch 2 Mal im Jahr. Ja, wir konnten telefonieren und wir besuchten uns gegenseitig, aber es ist halt ein gewaltiger Unterschied, ob man im selben Land wohnt oder nicht. Erst viele Jahre spĂ€ter war ich mit Deiner Entscheidung im Reinen und ich finde, wir alle haben stets versucht das Beste aus allem zu machen. Die groĂe Entfernung hat sich leider auch wĂ€hrend der Corona-Pandemie gerĂ€cht. Es gab ReisebeschrĂ€nkungen, QuarantĂ€ne-Vorschriften u.v.m. Und auch wĂ€hrend der "Lockerungen" der Vorschriften konnte man nicht einfach so nach Spanien fliegen, da es lange Zeit QuarantĂ€ne-Regelungen gab. HĂ€ttest Du in Deutschland gewohnt, hĂ€tten wir uns wĂ€hrend dieser Zeit sicherlich gesehen, wie sich viele Familien auch sehen konnten. Aber im Ausland war das alles nicht so leicht möglich. Das nur kurz zu dem MĂ€rchen, was herumerzĂ€hlt wird, weshalb wir uns wĂ€hrend der Pandemie nicht so einfach sehen konnten. Aber Du und ich haben uns am Telefon oft erzĂ€hlt, dass das "O.K." ist und man die Corona-Vorschriften nun Mal nicht Ă€ndern kann.
Dieses Foto aus meinen Kindheitstagen sagt so viel ĂŒber unsere innige Bindung aus, die wir bis zu Deinem Tod hatten. Und auf unsere Bindung waren einige Menschen neidisch.
Gewiss, es gab nicht selten Phasen, in denen wir manchmal viele Wochen nicht telefonierten. Dies spielte jedoch nie eine Rolle. Es gab keine VorwĂŒrfe, weil unser Band stabil war. Du hast existiert, wĂ€rst auch 2000 Kilometer entfernt in NotfĂ€llen fĂŒr mich da gewesen. Du hĂ€ttest mich, auch ohne Dir Geld bezahlen zu mĂŒssen, niemals auf der StraĂe schlafen lassen, wĂ€re es hart auf hart gekommen. Es hĂ€tte kein Wenn und kein Aber gegeben. Ein Kind ist ein Kind, ein Leben lang und fertig. Und genau dieses tiefe SicherheitsgefĂŒhl, dass ich bisher immer in mir spĂŒrte, ist nun weggebrochen.
Du hast nie in meine wegweisenden Lebensentscheidungen reingeredet, auch wenn ich fĂŒhlte, dass Du mit einigen Dingen nicht einverstanden warst oder anders gehandelt hĂ€ttest. DafĂŒr bin ich Dir sehr dankbar. Du wolltest Dein Kind seinen Weg gehen lassen, so wie es eine Mutter auch tun sollte. Bei einigen Dingen habe ich Dich absichtlich nicht nach Deiner Meinung gefragt, weil ich vorher wusste, was Du mir sagen wĂŒrdest. Wir haben unsere gegenseitigen LebensentwĂŒrfe stets akzeptiert, auch wenn uns dies gewiss nicht immer leicht fiel.
Leider konntest Du Marie
nicht kennenlernen, weil das Treffen aus dubiosen GrĂŒnden ausgebremst wurde.

Sei froh, dass Du nun nicht mehr miterleben musst, wie mit mir umgegangen wird. All dies wĂ€re mit Sicherheit nicht in Deinem Sinne gewesen. Ich habe, parallel zu Deinem Tod, wĂ€hrend der letzten Jahre unterschiedliche Erfahrungen gemacht, die dazu fĂŒhrten, dass das Ur-Vertrauen in mir zerstört wurde. Es gibt Menschen, die sich dafĂŒr schĂ€men sollten, wie respektlos sie noch wenige Monate vor H.´s Tod mit Dir geredet haben. Du hattest sehr darunter gelitten, wie Du mir öfter am Telefon erzĂ€hltest. Sie hatten und haben offenbar keine Empathie, kein SchamgefĂŒhl. Aber Du wolltest einfach nur Dein Leben leben und die Zeit genieĂen. Dies kann ich sehr gut verstehen.
Ich denke oft ans Meer,
das Du nun
mit Deinem einzigartigen Charakter
bereicherst
und von dem Du nun
ein Teil geworden bist...