Warum demĂŒtigt man einen alten Menschen?
In diesen Wochen blicke ich in den moralischen Abgrund menschlichen Handelns. Es stimmt mich sehr nachdenklich und traurig zu erleben, wie eine Willensbekundung, die von der Àlteren Person klar und deutlich formuliert wurde, einfach nicht umgesetzt wird, weil sie dem anderen, der sie umsetzen sollte, nicht in den Kram passt.
Ich sehe wie sich Entscheidungen, die in der Vergangenheit eigenstĂ€ndig getroffen wurden, plötzlich in Luft auflösen. Normale AltersschwĂ€che (schwerfĂ€lligere Gedanken, langsamere Sprache) wird von anderen Menschen drastisch uminterpretiert. Warum nur? Weil sich vielleicht daraus HandlungsspielrĂ€ume fĂŒr den (möglichen) eigenen Vorteil ergeben könnten? Plötzlich wird nicht mehr gefragt (!), was der Ă€ltere Mensch eigentlich will, sondern einfach ĂŒber den Kopf hinweg entschieden. Selbst wenn dieses Handeln anderer fĂŒr den alten Menschen rechtlich möglich sein sollte, so stellt sich hier die Frage nach dem Anstand, der Moral und dem Gewissen.
Ich finde es im höchsten MaĂe moralisch verwerflich, offenkundige Wehrlosigkeit (fehlendes technisches Wissen) auszunutzen und ein Handeln so umzuinterpretieren, als hĂ€tte man im Sinne des Alten gehandelt, obwohl er gewisse Dinge ganz anders wollte. Aufgrund verschiedener UmstĂ€nde kann ich leider nur zuhören und mit der Traurigkeit des alten Menschen, die ganz leise in den NebensĂ€tzen artikuliert wird, mitfĂŒhlen und nur bedingt helfen.
Wie mag sich ein alter Mensch fĂŒhlen, dessen Wille konterkariert wurde? Vielleicht ist "gedemĂŒtigt" das richtige Wort. Verdirbt man damit nicht den noch vorhandenen, wenigen Lebensmut? Ist es nicht die Aufgabe der anderen, VerstĂ€ndnis zu zeigen und zu versuchen, den Willen des Alten umzusetzen? NatĂŒrlich wĂ€hnt sich derjenige, der den Willen "hintertrieben" hat, auf der richtigen Seite des Handelns.
All diese moralische Niedertracht mitzuerleben, stimmt mich nachdenklich. Ich versetze mich jedes Mal, so gut es mir möglich ist, in mein GegenĂŒber, um ihn besser zu verstehen. Als wĂ€re das Alter mit all seiner sozialen Isolation und seinen BewegungseinschrĂ€nkungen nicht schwer genug, kommen jetzt noch solche DemĂŒtigungen hinzu.
Geschrieben im April/Mai 2022