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Sonntag, 19. Juni 2022

Eintrag 567

Warum demütigt man einen alten Menschen? 

In diesen Wochen blicke ich in den moralischen Abgrund menschlichen Handelns. Es stimmt mich sehr nachdenklich und traurig zu erleben, wie eine Willensbekundung, die von der älteren Person klar und deutlich formuliert wurde, einfach nicht umgesetzt wird, weil sie dem anderen, der sie umsetzen sollte, nicht in den Kram passt. 

Ich sehe wie sich Entscheidungen, die in der Vergangenheit eigenständig getroffen wurden, plötzlich in Luft auflösen. Normale Altersschwäche (schwerfälligere Gedanken, langsamere Sprache) wird von anderen Menschen drastisch uminterpretiert. Warum nur? Weil sich vielleicht daraus Handlungsspielräume für den (möglichen) eigenen Vorteil ergeben könnten? Plötzlich wird nicht mehr gefragt (!), was der ältere Mensch eigentlich will, sondern einfach über den Kopf hinweg entschieden. Selbst wenn dieses Handeln anderer für den alten Menschen rechtlich möglich sein sollte, so stellt sich hier die Frage nach dem Anstand, der Moral und dem Gewissen.

Ich finde es im höchsten Maße moralisch verwerflich, offenkundige Wehrlosigkeit (fehlendes technisches Wissen) auszunutzen und ein Handeln so umzuinterpretieren, als hätte man im Sinne des Alten gehandelt, obwohl er gewisse Dinge ganz anders wollte. Aufgrund verschiedener Umstände kann ich leider nur zuhören und mit der Traurigkeit des alten Menschen, die ganz leise in den Nebensätzen artikuliert wird, mitfühlen und nur bedingt helfen.

Wie mag sich ein alter Mensch fühlen, dessen Wille konterkariert wurde? Vielleicht ist "gedemütigt" das richtige Wort. Verdirbt man damit nicht den noch vorhandenen, wenigen Lebensmut? Ist es nicht die Aufgabe der anderen, Verständnis zu zeigen und zu versuchen, den Willen des Alten umzusetzen? Natürlich wähnt sich derjenige, der den Willen "hintertrieben" hat, auf der richtigen Seite des Handelns.

All diese moralische Niedertracht mitzuerleben, stimmt mich nachdenklich. Ich versetze mich jedes Mal, so gut es mir möglich ist, in mein Gegenüber, um ihn besser zu verstehen. Als wäre das Alter mit all seiner sozialen Isolation und seinen Bewegungseinschränkungen nicht schwer genug, kommen jetzt noch solche Demütigungen hinzu.

Geschrieben im April/Mai 2022