Ein bisschen Ich.
Teil 35.
Wie permanenter Suff die NÀhe und das Vertrauen zerstört
- Dieser Eintrag ist eine ErgÀnzung von Eintrag 615 -
Vorwort: Wie immer mache ich keine personenbezogenen Angaben, wenn ich einen Sachverhalt nĂ€her beschreiben möchte (Name, Geschlecht oder Alter). Ich werde daher Worte wie "Trinker" oder "Alkoholiker" nutzen, damit ein konkreter RĂŒckschluss auf eine Person fĂŒr neutrale Dritte ausgeschlossen ist. In diesem Eintrag geht es mir nur darum, die oben genannte Thematik allgemein zu reflektieren, also wie und warum der Alkohol Vertrauen zerstören kann. Bei dieser Schilderung handelt es sich um meine Sichtweise auf gewisse Ereignisse, es handelt sich daher um eine einseitige Darstellung. Diese "Einseitigkeit" liegt jedoch in der Natur eines Tagebuches. (Vorwort Ende)
Wer meinen Blog lĂ€nger liest, der weiĂ, dass ich unter dem Alkoholismus verschiedener Menschen litt, die mir im Leben begegnet waren. In diesem Eintrag beschreibe ich, ganz allgemein, wie und warum der Suff freundschaftliche, partnerschaftliche oder vĂ€terliche NĂ€he und das Vertrauen zerstören kann.
Ausgangspunkt meiner ErzĂ€hlung ist die frĂŒhkindliche Erfahrung mit meinem Vater, die jedoch sehr gut meine weiteren Erfahrungen mit den anderen Alkoholikern, die ich spĂ€ter im Leben kennenlernte, widerspiegelt. Fast punktgenau, nur in leichter Abwandlung, erlebte ich gleiche Verhaltensmuster, die ich bei bei meinem Vater erlebte, auch bei den anderen Trinkern. In meiner Schilderung versuche ich auf diejenigen Muster einzugehen, die menschliche NĂ€he und Vertrauen zerstören können, wie es bei mir der Fall war.
1. Drehbuch eines Saufexzesses:
Ein Saufexzess spielte sich meistens nach dem gleichen Schema ab. Wenn einer der Trinker vom Einkauf oder von der Arbeit mit klappernden Flaschen durch den Flur lief, wusste ich genau, der Abend war gelaufen!
Es wurde ein Trauerspiel aus mehreren Akten aus immer dem gleichen Drehbuch aufgefĂŒhrt, das meistens so endete, dass der Trinker nach vielen Stunden irgendwo in einer Ecke einschlief. Zwischen dem ersten Schluck Bier und dem Einschlafen irgendwo in der Wohnung, spielte der Alkoholiker, gesteuert durch seine Suchterkrankung, ein Schmieren-Theater vor, das an Dramatik und menschlichen AbgrĂŒnden nicht zu ĂŒberbieten war. Ob man wollte oder nicht, man war aufgrund der Anwesenheit dazu gezwungen, entweder an diesem Zirkus teilzunehmen (durch Dialoge) oder sich die zutragenden Dinge mit anzuschauen. Viele Trinker suchen, meist nach einem gewissen Alkohol-Pegel, nach Geselligkeit. Sie quatschen einen mit Dingen voll, die man nicht hören möchte. Menschen werden nachts angerufen und vollgelallt, weil der Trinker sein starkes MitteilungsbedĂŒrfnis befriedigen möchte, das durch den Suff dramatisch verstĂ€rkt wird.
Da ich mich in irgendeiner emotionalen Beziehung zu jedem der Trinker (Vater, Kumpel etc.) befand, begann ich mich fĂŒr das Verhalten (z. B. Lallerei oder Zank mit mir oder anderen Menschen in geselligen Runden) zu schĂ€men und ich war wirklich froh, wenn der Trinker endlich schlief. Besonders traurig war es bei meinem Vater, weil er mein mĂ€nnliches Vorbild war bzw. sein sollte.
Zerstörung von NÀhe und Vertrauen (Ausgangspunkt dieses Beitrages sind Trinker, mit denen man in irgendeiner Form in einer zwischenmenschlichen Beziehung steht):
Ganz allgemein betrachtet: Wer sieht schon gern einen Menschen, zu dem er in einer emotionalen Beziehung steht (elterlich, freundschaftlich oder partnerschaftlich) in so einem jÀmmerlichen Zustand? Sowas ist dauerhaft nicht besonders attraktiv und fördert auch keine Freundschaften.
Wer findet es schon toll, wenn der Trinker peinlich herumlallt und nicht merkt, wie andere Menschen aus einer geselligen Runde von dem auffĂ€lligen Verhalten angewidert sind? Dies fĂŒhrt nicht selten dazu, dass man nicht mehr eingeladen wird oder Angehörige versuchen Situationen mit Alkohol zu vermeiden. SpĂ€testens hier wird der Alkoholismus des Trinkers zum Problem fĂŒr sein Umfeld!
Wer möchte schon permanent und ungefragt in einem Film mitspielen (Saufexzess), in dem er ĂŒberhaupt nicht mitspielen will? Man muss Dinge tun (Bier holen), anhören (Selbstmitleid, Musik oder Zankereien) oder sehen (körperlicher Zustand des Trinkers), die man gar nicht tun, anhören oder sehen will. Ich wurde jedoch gar nicht gefragt, denn das Drehbuch des Saufexzesses gibt den Takt vor, nach dem ich zu tanzen hatte, ob ich wollte oder nicht. Leider können sich die wenigsten Trinker in die Lage des GegenĂŒbers versetzen, weil die Sucht das Verhalten des Suchtkranken dominiert. Im Gegenzug sind viele Trinker im Suff aber sehr intolerant, wenn sie mal in den Genuss kommen sich auf Dinge einzulassen, die dem GegenĂŒber wichtig sind. Beispiel: Der Alkoholiker wollte stets seine Musik hören (mein Vater seinen Schlager, andere Trinker andere Musik). Meine MusikwĂŒnsche wurden oft nicht toleriert. Nicht selten wurde mein Musikwunsch mitten im Lied abgebrochen. Das man solche AnmaĂungen nicht lange aushĂ€lt, dĂŒrfte eigentlich jedem neutralen Beobachter klar sein.
2. Ăbler Geruch / GerĂ€uschempfindlichkeit:
Wenn dann ein Trinker in irgendeiner Ecke einschlief und endlich Ruhe war, begann es nach einigen Stunden ĂŒbel nach "Ausdunstung" zu riehen (Bierfahne). Bei allen Trinkern, die ich kannte, hat es permanent nach Ausdunstung gestunken. Als ich ein kleiner Junge war, fand ich diesen Geruch schon sehr unangenehm, wenn mein Vater seinen Rausch ausschlief.
Und obwohl der Alkoholiker noch Stunden zuvor herumsang und sich alles andere als leise verhielt, war er im Schlaf plötzlich sehr gerÀuschempfindlich. Man musste quasi auf Zehenspitzen, ganz still und leise, durch die Wohnung schleichen, damit der heilige Schlaf des Trinkers nicht gestört wurde.
Zerstörung von NÀhe und Vertrauen:
Wer riecht schon gern mehrmals im Monat Bierfahnen? Wer findet es toll sich still und leise verhalten zu mĂŒssen, obwohl der Trinker Stunden zuvor gar nicht auf die Idee kam, sich selbst still und leise zu verhalten?
Da so ein Verhalten nicht nur 3 Mal im Jahr vorkam, was vielleicht noch halbwegs akzeptabel wÀre, sondern mitunter 3 Mal (oder öfter) im Monat, hat man als klar denkender Mensch darauf irgendwann keine Lust mehr.
3. Bizarre Situationen:
Leider erlebte ich bei sĂ€mtlichen Trinkern mitunter sehr bizarre Situationen. Besonders die Streitlust und "Trotzköpfigkeit", die im Rausch entwickelt wird, ist mir ĂŒbel aufgestoĂen.
Die Redseligkeit des Trinkers fĂŒhrte nicht selten dazu, dass man notgedrungen in GesprĂ€che verwickelt wurde, obwohl von meiner Seite nicht immer Redebedarf bestand. Wenn ich irgendwann nicht mehr antwortete oder das Thema wechselte, weil ich merkte, dass sich der Suchtkranke in irgendwas hineinredete, war er beleidigt. Ihm wurde nun, aus seiner Sicht, nicht mehr die nötige Aufmerksamkeit gegeben. Und dieses "Beleidigt-sein" fĂŒhrte oft zu einem anmaĂenden und bevormunden verhalten seinerseits.
Weiterhin ist es auch nicht schön anzusehen, wenn jemand mit dickem Speichel in den Mundwinkeln vor mir steht und schlau durch die Gegend redet, obwohl er von gewissen Dingen gar keine Ahnung hat.
Nicht selten musste ich die Trinker auf dem Heimweg stĂŒtzen, ins Taxi/Auto tragen, vom BĂŒrgersteig hochheben, aus den BĂŒschen holen (auch als siebenjĂ€hriger Junge bei meinem Vater) oder, wenn sie unbemerkt zwischen ihre leeren Bierfalschen gefallen waren, aufrichten. Obwohl ich den Trinkern in der jeweiligen Situation gern half, war das ein sehr jĂ€mmerliches Bild, was ich da sehen musste!
Zerstörung von NÀhe und Vertrauen:
Verschiedene bizarre Situationen haben die NÀhe und das Vertrauen in mir vollkommen zerstört. Und dann immer diese Undankbarkeit!
Wie oft redete ich auf die Trinker ein, dass sie aufstehen sollen, wenn sie hilflos, wie kleine Kinder, auf dem Gehweg saĂen, damit sie gut nach Hause kommen? Wie oft hatte ich ihnen meine Hand gereicht, um sie hochzuheben, die sie dann nicht wollten? Wie oft wollte ich sie zeitig ins Bett bringen, damit sie sich nicht weiter besaufen, weil das ihrem Körper sicher nicht gut getan hĂ€tte? Wie oft lud ich sie in Restaurants, Bars und Kneipen ein und war ihnen gegenĂŒber sehr groĂzĂŒgig? Wer tolerierte ihr unverschĂ€mtes und intolerantes Verhalten mir gegenĂŒber, nach dem ich ihre GetrĂ€nke mit bezahlte? Wer machte teure Geschenke, die höchstwahrscheinlich heute noch tĂ€glich genutzt werden und die ich mir dann spĂ€ter in Saufexzessen in den "Ar.ch" schieben sollte? GefĂŒhle gehen bei so einem Verhalten schnell kaputt.
Als Dank fĂŒr mein Gutes, was ich stets tun wollte und auch tat, wurde ich angepammt!
Ja, damit es hier nicht unerwĂ€hnt bleibt. Auch ich bin nicht perfekt und habe Fehler, wie jeder andere Mensch auch. Aber so dreist, respektlos, unverschĂ€mt und bevormundend, wie man sich mir gegenĂŒber verhielt, bin ich mit keinem der Trinker umgegangen.
Fazit:
All die beschriebenen Sachverhalte haben in Summe meine NĂ€he und mein Vertrauen in sĂ€mtliche Trinker, die ich kannte, ruiniert. Bei den oben skizzierten Personen ging es nicht darum, dass sie selten "Mal" einen ĂŒber den Durst tranken, wie ich es auch gelegentlich Mal machte. Ich rede hier von einem permanenten und massiven Trinkverhalten, mitunter mehrmals im Monat. Ich rede hier auch von Menschen, die ab einer gewissen Anzahl von Bieren oder anderen alkoholischen GetrĂ€nken nicht mehr so leicht aufhören können zu trinken (bis sie meistens irgendwo einschliefen). Was neben ihrem Alkohol-Konsum (Menge) parallel negativ mitschwang, ist ihr teilweise unertrĂ€gliches Verhalten, das sie hĂ€ufig an den Tag legten.
Nach einer Weile hatte ich mich von ihnen innerlich abgewandt, weil mich ihr Verhalten nur noch anwiderte. Ich ertrug das alles nicht mehr und machte am Ende mein Ding.
Im Grunde tun sie mir noch heute sehr Leid, weil sie nicht erkennen können oder wollen, in welch einem Sumpf sie stecken. Selbst an die groĂe Anzahl leerer Bierflaschen um sie herum haben sie sich offenbar gewöhnt, genau wie mein Vater. Und dieser Sumpf wird vermutlich eines Tages ihre Gesundheit oder ihr Leben ruinieren und auch das Leben ihres Umfelds. Denn ihr Umfeld passt sich ihrer Sucht zwangslĂ€ufig an (verharmlosen, schön reden, vertuschen), weil diese Menschen in einer zwischenmenschlichen Beziehung mit ihnen stehen und Stress vermeiden wollen. All das merken sie nicht. Genau hierin liegt die Tragik begrĂŒndet, die ihr Leben und das Leben ihrer Familie / Freunde bestimmt.
Geschrieben November / Dezember 2022